Retinitis pigmentosa und andere diffuse Degenerationen

Eine der größten Kindergruppen, deren Gesichtsfeld wir genau untersuchen sollen, ist die Gruppe mit Retinitis pigmentosa und anderen Degenerationen der Netzhaut. Da diese Degenerationen langsam sich erweiternde Skotome verursachen, sollten die Kinder regelmäßig untersucht werden, speziell taube und hörgeschädigte Kinder, für die das Sehen natürlich noch wichtiger ist als bei hörenden Kindern (siehe Teil II).

Die Größe des Gesichtsfeldes kann bei Kleinkindern unter Benutzung des Sheridan´s Ball- Tests und verschiedener Spielzeuge beurteilt werden, aber diese Teste machen keine Aussagen bezüglich einer Veränderung der Retinis pigmentosa. Die frühen Veränderungen entstehen in der mittleren Netzhautperipherie des Gesichtsfeldes (nicht in der Mitte, nicht an der Peripherie aber in einem kreisförmigen Gebiet um das zentrale Gesichtsfeld herum von etwa 50 - 60 Grad Durchmesser). Die kleinen Flecken mit verminderter Funktion sind schwer vor dem 4 ½ - 5. Lebensjahr zu messen. Wenn einem Kind die Gelegenheit gegeben wird, bei der Gesichtsfelduntersuchung nach Goldmann eine älteren Kindes zuzuschauen, dann ist es leichter, ihm zu erklären, den Fixationspunkt die ganze Zeit anzusehen und gleichzeitig auf periphere Stimuli zu reagieren.


A.

Ergebnisse der Goldmann-Perimetrie in verschiedenen Altersstufen.

A. Als erstes ist eine Abnahme in der Größe der Isopter I/4, II/4 und III/4, im linken Gesichtsfeld auch IV/4 zu sehen. Das Gesichtsfeld, das mit dem größten Stimulus gemessen wird, scheint etwas klein zu sein, aber dieses Ergebnis hat wahrscheinlich mit dem jungen Alter zu tun und wird in den nächsten Messungen "wachsen".


B.

B. Später kann man einen weiteren Funktionsverlust in der mittleren Peripherie des Gesichtsfeldes beobachten. Später entsteht ein weiterer Funktionsverlust in der mittleren Peripherie des Gesichtsfeldes, das Ringskotom entwickelt sich und wird zu einem ‚absolutem' Skotom. Ein absolutes Skotom ist ein Bereich, in dem keine Reaktion auf den größten, hellsten Lichtstimulus des Perimeters erfolgt.

C.

C. Der Ringskotom im binokularen Gesichtsfield. Gewöhnlich wird das Ringskotom schwarz gemalt. In diesem Beispiel verwende ich nur graue Töne, um zu betonen, dass in mehreren Fällen der Gesichtsfeldbereich eines absoluten Skotoms nicht blind ist, sondern dass dort Bewegung und größere Lichtquelle gesehen werden.

Mit der Zeit kann das Ringskotom größer werden bis nur ein röhrenförmiges Gesichtsfeld und ein peripheres halbmondförmiges Gesichtsfeld übrigbleiben. Während des Schulalters entwickeln sich die Netzhautveränderungen jedoch selten so weit.

Vor den Testsituationen kann man mit einem kleinen Licht, am besten mit einem blinkenden Diodenlicht an einem langen Stab üben. Diese Technik ist außerdem hilfreich Skotome zu demonstrieren. Platzieren Sie das ausgeschaltete Licht innerhalb eines Skotoms, das bei der Gesichtsfelduntersuchung gemessen wurde. Schalten Sie das Licht oder das blinkende Lichtsignal ein und bewegen Sie es zu dem funktionierenden Bereich des Gesichtsfeldes. Auf diese Weise kann man ein Ringskotom, dessen sich das Kind nicht bewusst ist, demonstrieren. Es ist wichtig zu erklären, dass jeder von uns ähnliche kleine Skotome hat, zum Beispiel den blinden Fleck in jedem Gesichtsfeld, und dass auch wir uns dessen nicht bewusst sind.

Die erste Überprüfung des Gesichtsfeldes ist mehr Training als Test. Während der zweiten Messung ist es möglich wenigstens das Gesichtsfeld des einen Auges zuverlässig zu ermitteln, bei der dritten Messung dann das des Anderen. Das größte der Isoptere zeigt zwischen dem fünften und dem neunten Lebensjahr eine Tendenz, sich leicht nach außen zu bewegen, dann einige Jahre stabil zu bleiben. Diese ‚Verbesserung' ist nicht real, sondern ein Zeichen verbesserter Zusammenarbeit.

Die Zeit, die für die Goldmann- Perimetrie zur Verfügung steht, ist begrenzt. Sobald sich das Kind langweilt, beginnen die Schwellenwerte zu schwanken. Deshalb ist es oft ratsam, den Test auf die Isoptere IV/4 und I/4 zu beschränken. Wenn der Abstand zwischen diesen Isopteren größer als normal ist, dann besteht ein Funktionsverlust in der mittleren Peripherie. Dies kann zu Problemen in der Wahrnehmung von Bewegung führen, so dass Ballspiele schwierig werden können, aber nicht bei allen Kindern mit RP. Einer unserer besten jungen Torhüter in Finnland hat ein recht großes Ringskotom. In seinem Fall konnten wir in allen gemessen Bereichen des Skotoms Bewegungsempfindlichkeit messen (siehe Funktionales Gesichtsfeld).

Ein relatives Ringskotom kann bei einem niedrigen Beleuchtungsniveau zu einem absoluten Ringskotom werden, das heißt, das Gesichtsfeld verkleinert sich, wenn das Kind einen dunkleren Raum betritt. Zur Zeit verwenden wir für die Messung des skotopischen Gesichtsfeldes keine standardisierten Techniken, mit Ausnahme weniger Universitätskliniken, obwohl bei der Goldmann- Perimetrie die Messungen bei niedrigen Beleuchtungsniveaus möglich sind. Wenn der Eindruck entsteht, dass das Kind Probleme hat, bei niedrigen Beleuchtungsniveaus den Anweisungen zu folgen, dann sollte das Konfrontationsfeld bei mesopischen Beleuchtungsniveaus gemessen werden.

Bei der Diagnostik des Gesichtsfeldes und allen anderen visuellen Funktionen bei Kindern mit RP, sollten wir daran denken, ob das Kind vor der Messung hellem Tageslicht ausgesetzt war. Wenn das Kind an einem hellen sonnigen Tag zur Untersuchung kommt, können Sehschärfe und Kontrastempfindlichkeit etwas schlechter sein, als an einem wolkigen Tag. Im Gesichtsfeld können die Veränderungen erschreckend groß sein. Wenn man eine große Veränderung diagnostisiert hat, ist es deshalb klug, die Messung nach einer Wartezeit von 1-2 Stunden mit niedriger photopischer Beleuchtung zu wiederholen. Das Leuchtdichteniveau der Goldmann-Perimeter ist niedrig, nur 10 Candelas pro Quadratmeter. Darum beschreiben Goldmann perimetrische Befunde nicht das Gesichtsfeld im Tageslicht. Wenn möglich sollte man die Befunde mit Kindern im Tageslicht aufs Neue überprüfen. Ältere Kinder können die Struktur des Gesichtsfeldes ganz gut beschreiben.

Nach einer Untersuchung im Laboratorium ist es ratsam, das Gesichtsfeld draußen zu messen. Dadurch erfährt man, wie die Struktur des Gesichtsfeldes im Tageslicht ist.

Ältere Kinder können die Struktur des Gesichtsfeldes oft gut beschreiben und das Ringskotom demonstrieren, wie dieser Junge. Draußen ist das Ringskotom auch in diesem Fall kleiner als im Haus, oder wenn der Junge im Schatten des Hauses steht und nicht geblendet wird.

Automatische Perimetrien, die kleine, kurze Lichtstimuli benutzen, fallen Kindern mit RP sehr schwer, denn die Stimuli sind mit den spontanen Lichtern identisch, die diese Kinder oft schon im Vorschulalter sehen. Das Kind kann nicht wissen, wann die Lichter Stimuli und wann sie spontane Lichter sind. Auch geben die Resultate meistens einen sehr schlechten Eindruck von der Funktion des Gesichtsfeldes. (vgl. den Vortrag "Funktionales Gesichtsfeld")

Verletzungen der Sehbahnen

Sie werden oft erst im Vorschulalter diagnostisiert, obwohl die Befunde im MRI Jahre früher zu sehen wären. Kreislaufstörungen in den Ventrikelwänden können sowohl motorische, visuelle und auch auditive Bahnen verletzen, was zu periventikulärer Leukomalasie führt (peri=bei, ventricular= Gehirnventrikel, leuco = weiß, malasie = Erkrankung, >=Verlust der weißen Substanz, Nervenfasern). Wenn die Matrix-zellen, aus denen die langen Nervenfasern wachsen, sterben, fehlen die Bahnen völlig, die aus den Matrixzellen entstehen sollten. Wenn die Nervenfasern erst später verletzt werden, gibt es kleinere oder größere "Löcher" im Gesichtsfeld oder Verengung des Gesichtsfeldes.

Die Gehirnventrikel liegen teils in der Mittellinie, teils im Temporallappen, wo die Sehbahnen, die den Kniehöcker verlassen, sich um den lateralen Ventrikel herum biegen und dadurch dicht an der Ventrikelwand liegen. Hier sind die Gehirnventrikel von der Seite und von vorne zu sehen. In der rechten Ecke sieht man die Opticusfasern, die Radiatio optica. (Das Bild durch Klicken vergrößern)

Ein typischer Befund ist in diesem Bild zu sehen: Das linke Auge ist funktionell blind, hat so große Fixaktionsschwierigkeiten, dass das Gesichtsfeld nur grob als temporales Restfeld geschätzt werden konnte; auch das rechte Auge hatte Fixaktionsschwierigkeiten, aber eine Goldmann Perimetrie war möglich und zeigte den Verlust des unteren Teiles des Gesichtsfeldes.

In der LH Materials CD gibt es eine Beschreibung eines anderen Jungen, der den linken, unteren Quadranten verloren hatte. Der Verlust kann auch eine homonyme Hemianopie sein, mit oder ohne Makulaaussparung.

A. Rechtsseitiger Gesichtsfeldausfall ohne Makulaaussparung und B. rechtsseitiger Ausfall mit Makulaaussparung. Eine Makulaaussparung bedeutet, dass die Nervenfasern der Makula nicht verletzt wurden, obwohl alle anderen Nervenfasern, die die visuelle Information aus der linken Seite beider Netzhäute weiterführen, ihre Funktion verloren haben.

Wenn es keine Makulaaussparung gibt, ist es schwierig, zur blinden Seite hin, in die Richtung der nicht existierenden Information, zu lesen. Einige Kinder stellen das Buch auf den Kopf, lesen von rechts nach links oder halten eine Karte unterhalb der Reihe, die sie lesen, um den Beginn der nächsten Reihe leichter zu finden. Andere Kinder lernen, etwas exzentrisch zu fixieren, um etwas auf der rechten Seite des Wortes zu sehen. Noch andere wenden das Buch etwa neunzig Grad und lesen die Zeilen von unten nach oben.

Diese Hemianopien ohne Makulaaussparung sind meistens von Verkehrsunfällen verursacht worden. Hat das Kind vor dem Unfall gelernt zu lesen, geschieht die Umstellung beim Lesen oft schon während der Genesung, bevor das Kind wieder zur Schule kommt.

Ein Ausfall auf der linken Seite erschwert das Finden des Anfangs der nächsten Zeile. In dieser Situation ist ein Lineal oder eine Karte unter der zu lesenden Zeile hilfreich.

Scanning, visuelles Abtasten, ist eine wichtige Strategie um Gesichtsfeldausfälle zu kompensieren. Dem Kind kann beigebracht werden, seine Umwelt regelmäßig zu "scannen". Hemianopische Kinder "werfen" ihren Blick zur blinden Seite hin und bewegen ihn dann ruhig zurück bis zur Mittellinie. Kinder mit Röhrengesichtsfeld bewegen den Blick von Seite zu Seite, wie einen Langstock.

Beobachtungen beim Ballspiel und andere Spielsituationen

Im Vortrag "Funktionelles Gesichtsfeld" ist eine Spielsituation vorgestellt, wo man die Funktion des peripheren Gesichtsfeldes beobachten kann. Vieles kann man schon bei einfachen Ballspielen lernen, zum Beispiel, wenn man mehrere Bälle auf einmal rollt und beobachtet, ob das Kind sie auf beiden Seiten gleich gut wahrnehmen kann.